Das Leben in einer militanten Oppositionsbewegung und der Weg hinaus
"Intern unterdrückten sie Menschen und extern behaupteten sie, dass man gegen die Diktatoren kämpfen würde"
Das folgende Interview ist ein subjektiver Erlebnisbericht über eine Kindheit und Jugend als Soldat*in bei den iranischen Volksmujahedin (auch MEK oder PMOI genannt), einer militanten iranischen Oppositionsbewegung. Die Verbindung der interviewten Person zu der Bewegung begann mit ihrer Geburt in den 1980ern und endete 2014 mit ihrem Ausstieg.
Die Schilderung erhebt keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung der Organisation. Der Name des befragten Individuums sowie konkrete Details, die auf seine*ihre Identität schließen lassen könnten, werden aus Sicherheitsgründen nicht genannt, sind der Redakteurin aber bekannt. Die geschilderten Erlebnisse können nicht von weiteren Quellen belegt werden, da ausgetretene Personen von den Volksmujahedin generell zur Verschwiegenheit verpflichtet werden.
Rawafed: Wie bist du zu den iranischen Volksmujahedin gekommen?
Anonym: Meine Eltern sind Angehörige der Volksmujahedin und dadurch hatte ich schon immer eine Verbindung zu ihnen. Ich wurde praktisch in die Organisation hineingeboren und lebte zeitweise auch darin.
Wie sah dein alltägliches Leben bei der Organisation aus?
Im jungen Alter gab es keine allgemeinen Bildungsmöglichkeiten. Wir erhielten bereits als Kinder eine umfangreiche militärische Ausbildung und es gab stets neue Weiterbildungen. Es ging dabei auch darum, uns beschäftigt zu halten und keine Zeit zum Nachdenken zu lassen. Unser gesamter Tag war durchgeplant und es war immer jemand als Vorgesetzter oder Aufsicht anwesend, egal was wir gemacht haben.
Die einzige Zeit, in der wir täglich ungefähr eine halbe Stunde alleine waren, war die Sportzeit.
Wie sah dein soziales Leben aus?
Ich hatte kein Privatleben, man war immer in einer Gruppe, Männer und Frauen getrennt voneinander. In der Jugend hatte ich daher gar keinen Kontakt zu Frauen im privaten Sinne.
Gab es Versammlungen?
Wir hatten tägliche Sitzungen, in denen wir für beliebige Taten kritisiert wurden und uns auch selbst kritisieren und Berichte darüber schreiben mussten.
Außerdem gab es spezielle, situationsbedingte Sitzungen, die emotional sehr hart waren. Der Betroffene stand dabei vorne und das gesamte Publikum war gegen ihn. Zuerst hat der Betroffene die Kritik an sich selbst vorgelesen und dann hat das Publikum ihn weiter kritisiert, andere Fakten kamen heraus und das Thema wurde zur Sünde dramatisiert.
Die Beschuldigungen sollten den Betroffenen zusammenbrechen lassen und seinen Charakter brechen.
Außerdem gab es wöchentliche, später auch tägliche, Sitzungen, in denen man seine sexuellen Gedanken vor der Gruppe vortragen musste. Die Offenlegung führte zu einem umfassenden Gefühl von Erniedrigung und hatte dasselbe Ziel wie die anderen Sitzungen.
Das individuelle Denken und Fühlen einer Person und die Fähigkeit, sich selbst überhaupt als Individuum wahrzunehmen, zu zerstören.
Welche Werte hat die Organisation an euch weiter gegeben?
Individualismus war ein No-Go. Das Feindbild Nummer 1 auf ideologischer Ebene war jemand, der sein eigenes Leben leben wollte. Das äußerliche Feindbild aber war das iranische Regime und seine Diktatur.
Das ist das paradoxe daran: Intern unterdrückten sie Menschen und extern behaupteten sie, dass man gegen die Diktatoren kämpfen würde.
Außerdem propagierten sie die Werte des "Aufopferns", also die Aufgabe von psychischen und physischen Bedürfnissen, und Ehrlichkeit, obwohl diese Werte in der Führungsebene ganz und gar nicht vorhanden waren.
Welches Erlebnis im Zusammenhang mit der MEK ist dir am stärksten in Erinnerung geblieben?
Es ist schwierig sich auf eines festzulegen. Auf der psychologischen Ebene waren es definitiv die traumatisierenden Sitzungen, denn obwohl kein physischer Schaden zustande kam, war es unglaublich hart die Erniedrigung und Unterdrückung der Anderen mitanzusehen.
Die vielen Jahre in der Organisation an und für sich waren schon schlimm, da sie mit der Ungewissheit über meinen Lebensweg einhergingen. Es war belastend nicht die Möglichkeit zu haben, die Struktur zu durchbrechen und die Organisation zu verlassen.
Und natürlich auch die physische Gefahr sich ernsthaft zu verletzten, zu sterben, wie es bei vielen der Fall war. Sie kamen ganz unterschiedlich ums Leben, mal bei einem Attentat, mal starben sie an einer eigentlich heilbaren Krankheit. Es war vor allem schlimm, weil ich mir dachte “So will ich nicht enden”, in dieser Organisation, nur gehorcht und nicht gelebt zu haben.
Die medizinische Versorgung war sehr begrenzt. Damit spielte die Führungsebene der MEK, sie setzten Krankheiten ganz bewusst für die Förderung und Politik der Organisation ein. Beispielsweise hatte ein guter Freund von mir ein Nierenproblem und ist daran gestorben. Es waren viele bereit eine Niere für ihn zu spenden, aber dies kam nie zustande, weil die Organisation sein Leid für ihre Zwecke genutzt und nach außen propagiert hat. Der Tod meines Freundes war vermeidbar, die Organisation hat ihn aber für ihre eigenen Ziele ausgenutzt.
Wie bist du aus der Organisation ausgetreten?
Die irakische Regierung wollte die Organisation aus dem Irak schaffen, sie loswerden. Deshalb kam die UNO ins Spiel und hat die Verantwortung für die Sicherheit der Mitglieder übernommen. Vorher gab es Auseinandersetzungen mit den Irakern, bei denen viele Menschen verletzt oder getötet wurden.
Es war eine besondere Situation: Die Organisation war nach der 4. Genfer Konvention unter Schutz der Besatzer und da die Amerikaner den Irak verlassen hatten, aber für die Sicherheit der Organisation verantwortlich waren, musste die UNO als neutrale Organisation die Verantwortung übernehmen. Der Leiter der UNO Mission im Irak war ein Deutscher von der Partei “Die Grünen”. Er hat sich darum gekümmert, dass die Mitglieder der Organisation sicher aus dem Irak kamen und hat mir dadurch auch ermöglicht, die Organisation zu verlassen.
Was war die größte Schwierigkeit beim Verlassen der Organisation?
Einmal war es der große psychologische Druck von der Außenwelt ausgeschlossen zu sein.
Ich hatte keine Ahnung von der Welt, nur Informationen, die die Organisation konstruiert hatte. Es hieß, dass es gar nicht möglich wäre außerhalb der Organisation zu überleben. Sie erzählten uns zum Beispiel von einem spanischen Parlamentsmitglied, das sich das Leben genommen hätte, weil es seine Miete nicht zahlen konnte, oder dass die Leute in Frankreich kein Gemüse zu essen hätten, oder dass die iranischen Geflüchteten in Europa es höchstens zum Taxifahrer bringen würden.
Auf der ideologischen Ebene sah man den Austritt aus der Organisation als Hochverrat an. Hier kam die starke Gruppendynamik zum Tragen: Wie würde ich angesehen werden, wenn jemand den Verdacht hätte, dass ich die Organisation verlassen will? Dies hätte die Ausrufung einer speziellen Sitzung zur Folge.
Was war das größte Hindernis dabei ein unabhängiges Leben aufzubauen?
Die Fremdheit, das Ungewisse, die Unkenntnis der Welt. Vor allem auch, dass ich erst nach all den Jahren raus kam. Die Frage, ob es überhaupt noch möglich ist Anschluss zu finden, ob meine Bemühungen überhaupt sinnvoll sind.
Was hast du aus deinen Erlebnissen gelernt?
Optimismus und Hoffnung lohnen sich immer! Je schwieriger die Situation ist, desto notwendiger wird es, hoffnungsvoll und optimistisch zu bleiben.
Wie siehst du das Leben heute?
Heute, nachdem ich so einiges überwunden habe, sehe ich auf jeden Fall, dass ich viel mehr Möglichkeiten habe, um ein Leben anzufangen oder aufzubauen, um mich zu entfalten, als ich jemals dachte. Auch diese Sicht erschließt sich einem nur durch Hoffnung.
Giulia Brabetz ist Autorin und Übersetzerin bei Rawafed. Außerdem studiert sie die Geschichte und Kultur des Vorderen Orients mit dem Schwerpunkt Semitistik an der Freien Universität Berlin.
Sie interessiert sich für (menschliche) Kommunikation in all ihren Erscheinungsformen, vor allem aber für Sprachen, Kulturen und Musik.
Giulia Brabetz is an author and translator at Rawafed. She studies the History and Culture of the Near and Middle East with focus on semitic languages at Freie Universität Berlin.
Apart from that, she is interested in (human) communication in all its forms, especially in languages, cultures and music.