Schnüre und Knoten
Der nachfolgende Text entstand im Camp Moria, wo die Autorin vor Ort geflüchtete Menschen beim Ankommen unterstützt hat. Freiwillige werden aufgrund der prekären Situation in Griechenland noch immer fortwährend gebraucht!
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Ich habe Schnüre von Zäunen geschnitten. An den Metallzäunen wird alles befestigt: Wäscheleinen, Behelfszelte, Mülltüten, Kinderwägen. Wenn Menschen weiterziehen, nehmen sie oft die Schnüre mit. Schnüre sind im Camp wertvoll. Zurück bleiben Knoten und Fetzen im Zaun, weil die Energie oder das Werkzeug fehlt, um die Schnüre wieder zu lösen. Im Lauf der Zeit sammelt sich in den Fetzen der Dreck, es wird unansehnlich.Also ging ich mit meinem tollen Schweizer Taschenmesser – das ich leider am Ende von Tag 1 verloren habe – gegen die Knoten an. Blieb zweimal mit den Händen im Nato-Draht hängen, der die Zäune nach oben begrenzt – die Kanten sind messerscharf, echt brutal. Insgesamt habe ich Schnüre aus etwa 500 verschiedenen Materialien entfernt: Kabelbinder, Wolle, Tücher, zerschnittene Reste von Wolldecken, Drähte, sogar ein Reißverschluss war verknotet.
Während ich die Schnüre entfernte, betete ich für die Menschen, die sie aufgehängt haben. Ich habe mich gefragt, wo sie jetzt wohl sind. 4
- Sind sie noch in Griechenland?
- Haben sie es in eines der Wunschländer geschafft? Deutschland, Frankreich oder Schweden, die mir hier immer wieder als Favoriten genannt wurden.
- Wurden sie in die Türkei abgeschoben oder zurück in ihre Heimatländer?
- Leben sie noch?
Egal wo sie sind, Gott weiß es. Und ich bitte ihn, den Menschen, die die Schnüre aufgehängt haben, nahe zu sein, sie zu segnen und ihnen zu helfen.
Die neuen Menschen und Schnüre
Und dann sind da die Menschen, die jetzt die Schnüre aufhängen.
- Die Frau aus Afghanistan, deren Mann Drogen geraucht und gespritzt hat und den sie dann entweder verlassen hat oder der gestorben ist.
- Die afghanische Frau, die eine WhatsApp-Gruppe für die anderen Frauen gegründet hat, in der sie Material zum Thema „Umgang mit Ängsten“ herunterladen. Ich hab ihr von Wingwave zur Stressbewältigung erzählt und ihr gesagt, wie sie die App bekommt.
- Die Frau die mir sagt: „I am done with Somali men!“ (sie hat mir auch die Geschichte dazu erklärt, aber aus den Wortfetzen hab ich nichts Klares verstanden)
- Der Junge, der davon erzählt, wie in Afghanistan eine Bombe neben ihm hochging.
- Die Mutter, die ihr Kind nachts zum Arzt bringt, weil es von einer Ratte gebissen wurde (nicht sehr tief, aber Desinfektion war trotzdem sinnvoll)
Die fehlende Sprache
Immer wieder Sprachbarriere. Bei uns im Team, wo nur die Hälfte eine Sprache spricht, die auch die anderen verstehen. frage mich, wie das den Menschen im Camp geht, die das – außer bei Angehörigen ihrer eigenen Volksgruppe ja dauernd erleben.
Da haben wir mit dem Putzen der Häuser begonnen und konnten nicht erklären, was wir tun. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn plötzlich Morgens um 8.00 eine Putzkolonne an meinen Schiffsfenstern putzt!Oder als wir zur Datenerhebung in die Wohncontainer gingen und uns von den Menschen die amtlichen Papiere zeigen lassen mussten, um zu überprüfen, ob die Menschen da wohnen, wo sie registriert sind – damit man sie erreichen kann, wenn man sie zu Arztterminen oder amtlichen Termine ruft. Amtliche Papiere heißen hier einfach „Police Papers“ . Wir klopften an Tür um Tür – genauer gesagt an die Wand, neben denen die Decken hingen, die die Räume abteilten.
Um uns verständlich zu machen, sagten wir „Police papers“, aber wir konnten – außer bei einer Frau, die gut Englisch sprach – nicht erklären, warum wir die Papiere brauchten. Mir tat das so weh. Ich selbst würde das als sehr beängstigend oder übergriffig empfinden, wenn plötzlich jemand meine „Police Papers“ sehen will, ohne dass ich weiß, was Sache ist.Ich wünschte, ich hätte ein paar bessere Sprachschnüre gehabt, um Verbindungen zu bauen, die Sorge aus der Situation zu nehmen.
Wie viel Angst da ist, kann man nur ahnen...
- Wenn man die Arme der Jungs voller Narben vom Ritzen sieht
- Wenn Frauen von der Unsicherheit gegenüber Männern sprechen
- Wenn man davon hört, dass eine Frau in einem geschlossenen Raum nicht schlafen kann
- Wenn man von Alpträumen hört
Foto: Privat
Über die Autorin: Kerstin Hack liebt es Geschichten zu erleben und zu schreiben. Sie lebt und arbeitet als Coach und Autorin auf einem Hausboot in Oberschöneweide. www.kerstinhack.de. Im April diesen Jahres hat Kerstin eine Woche im Camp Moria (Griechenland) geflüchtete Menschen beim Ankommen vor Ort unterstützt.
Gastbeiträge kommen von engagierten alten und neuen Nachbar*innen und Projekten in Treptow-Köpenick und darüber hinaus. Unterm Artikel steht, wer's geschrieben hat.
Guest contributions come from committed longtime neighbours, newcomers and projects in Treptow-Köpenick and beyond. Below the article you can see who the author is.